Samstag, 12.01.2002

LETZTE WOCHE hiess es, Mullah Omar sei in Zentralafghanistan auf einem Motorrad auf der Flucht. Der zwar einäugige, aber dafür „zweitmeist gehasste Mann der Welt“ auf der Enduro: das Gesicht schurkisch verzerrt und immer wieder nach dem Turban greifend, prescht er über die steinige Piste. Am Himmel über ihm kreisen amerikanische Aufklärungsdrohnen...

AMERIKA – die Über-Macht. Ein autistischer Riese, der die Welt bewacht und ihr seinen Willen aufzwingt. Sicher, wer von uns würde auf den individuellen Spielraum, den ein politisches und ökonomisches System wie das westliche gestattet, verzichten wollen? Wir leben in vielerlei Hinsicht ein „amerikanisches“ Leben. Dennoch spüren wir in den tieferen Schichten unserer Psyche: Europa ist nicht Amerika. Es gibt zu viele Eigenheiten und Eigenschaften der amerikanischen Seele, die uns „fremdeln“ lassen. Da ist einmal die ungeheure Selbstbezogenheit, die Amerika auszeichnet. Dass eine Nation im Hinblick auf ihre psychologische Projektionsfläche sich selbst in einem Maße genug ist wie Amerika, ist in mancher Hinsicht neu und für Europäer so nicht nachvollziehbar. Zu sehr hing das Schicksal der europäischen Nationen voneinander ab, zu eng war der gemeinsame Raum, so dass selbst und gerade in Phasen des wahnhaften Nationalismus das Bewusstsein für die Existenz und die Beschaffenheit der Anderen stets hellwach war.
Die Unbekümmertheit, mit der der amerikanische Riese Geschenke und Bomben verteilt, seine irgendwie präpotente, von keinerlei Selbstzweifeln angekränkelte Sieghaftigkeit mutet uns angesichts der apokalyptischen Szenarien, die die Völker Europas sich auf dem gemeinsamen Kontinent bereiteten, ebenfalls seltsam an. Auch das „Vietnam-Trauma“ Amerikas scheint längst überwunden. Die letzten, siegreichen und mit geringen eigenen Verlusten geführten Kriege haben Vietnam eher auf den Status eines, allerdings quälend langwierigen Betriebsunfalls zurückgeschraubt, zumal der Hauptgegner in diesem Konflikt, das rote Weltreich später unterging, ein verspäteter Sieg also.
Die amerikanische Psyche verträgt, wie allerdings auch die der modernen europäischen Menschen, keine Dualität. Eine wechselseitige Bedingtheit von Gut und Böse als zwei Seiten ein und derselben Medaille als eine Tatsache des Lebens zu verstehen, fällt schwer.