Mittwoch, 02.01.2002

DER ERSTE WERKTAG in EUROLAND: Menschenschlangen vor den Bankschaltern, zum Teil bis auf die Strasse, wo die Leute in der Kälte von einem Bein aufs andere treten und dampfende Atemluft ausstoßen – alle in dem absurden Wahn, jetzt sofort ihre restlichen Deutschmarks umtauschen zu müssen. Schröder hat gemeint, dass nun ein “Jahrhunderte alter Traum” wahr würde, gepaart mit “grenzenloser Reisefreiheit”. Das klingt wie der erste Motorflug und die Maueröffnung an einem Tag.

IM DEZEMBER war ich viel unterwegs. Die Beerdigung meiner Oma hatte den Charakter eines großen Familientheaters, bei dem die Personen aus dem Halbdunkel der Familiengeschichte hervortraten. Da war meine immer schon etwas verrückte Tante Edith. Das letzte Bild, das ich von ihr im Kopf hatte, stammt von Anfang der 80er, als sie nach einem Konzert in einem schneeweißen Kostüm und mit einem wagenradgroßen Hut auf mich zu stöckelte. Als Kind habe ich ihre Art immer sehr faszinierend gefunden, diese Schrillheit des Geschmacks. Ihre Wohnung war eine Ausstellung des erlesensten Nippes, inklusive Italienromantik. Mein Onkel malte in seiner Freizeit, vornehmlich Landschaftsszenen, und an Sonntagen ging ich manchmal mit den beiden und dem Chow Chow spazieren. Sie lachte viel, wobei der Klang ihrer Stimme schon mal die Schmerzgrenze überschritt, während sie ein Likörchen nach dem anderen zwitscherte. Ich mochte sie, in den letzten beiden Jahrzehnten war sie völlig aus meinem Gesichtskreis verschwunden und ich freute mich, sie ziemlich munter anzutreffen.

Auch der amerikanische Zweig der Familie war anwesend, inklusive meine beiden Vettern, Investmentbanker von Beruf. Vetter John, der ältere von beiden, ist besonders gerieben und mit Mitte Dreissig bereits steinreich. Der Junge ist konsequent diesseitig und oral veranlagt, er liebt deutsches Bier und Mettwurst, die er auch als Nebengang kommen lässt. Nach dem Essen fragte er mich, was ich denn vom amerikanischen Engagement in Afghanistan halte. Im Zuge der Unterhaltung bemerkte ich, dass ich mir vorstellen könnte, dass die “Allianz gegen den Terror” wohl bröckeln würde, wenn die USA sich, wie angedroht, nun die nächsten “Schurkenstaaten” vorknöpfen wollten. “Don’t take this personal,” meinte er, “but I‘m sure we can take care of the whole thing on our own.”

WEIHNACHTEN kam mir dieses Mal besonders lang vor. Es war auch ein besonders bunter Reigen aus Fondue, Enkelmania und einigen emotionalen Eruptionen zu vorgerückter Stunde. In der Nacht stand ich lange am Fenster...