Sonntag, 08.12.2001

ZIEMLICH genau 6 Monate her, dass ich mit den “Osterstrassen-Papieren” begonnen habe. In einem meiner ersten Einträge sprach ich vom nahen Tod meiner OMA. Gestern abend ist sie nun gestorben, nach langer Umnachtung. Sie war zeitlebens eine ziemlich dominante, für viele Leute wohl eher schwierige Frau. Zu mir war sie fast immer sehr nett. Sie wohnte mit meinem Grossvater direkt bei einer großen Freifläche, auf der, oft während der Schulferien, die größte Kirmes der Umgebung statt fand und außerdem zwei Mal im Jahr ein großer Zirkus gastierte. So kam es, dass ich mit acht, neun Jahren öfters zu Löwengebrüll und trompetenden Elefanten einschlief. Tagsüber trieb ich mich auf dem Gelände herum, freundete mich mit den Tierpflegern an und machte mich im Elefantenzelt als Wasserträger nützlich. Wenn Kirmes war, erhielt ich von ihr 5 Mark “Kirmesgeld”, eine traditionelle Zahlung, die mich in die Lage versetzte, mit meinem Kumpel Uwe Himmelrath einige Fahrten auf der Raupe oder in der Geisterbahn zu machen. Meist blieb dann noch genug übrig, um je zwei kandierte Bratäpfel und riesige Tüten mit Waffelbruch zu verzehren und versonnen am Rand der Fahrbetriebe herumzustehen und dem Gekreisch der Teenies und den neuesten Chartbreakern von Dave Dee, Dozy, Beaky, Mick & Tich oder Amen Corner zu lauschen. An Samstagabenden sah ich mit meinen Großeltern Kulenkampff und sonntags lief vor dem Mittagessen “Der internationale Frühschoppen”. Der Geruch der mittleren Sechziger ist mir am heutigen Tag besonders präsent, so wie der Geruch der kleinen, penibel aufgeräumten Wohnung und ihr ausgeprägtes Profil, das sich mit der grossen Nase scharf vor dem Küchenfenster abhebt, während sie an der Spüle hantiert. 98 Jahre ist sie alt geworden.