Donnerstag, 28.02.2002

DER GRAND PRIX D’EUROVISION hat in meinem Leben bisher eine eher untergeordnete Rolle gespielt, aber weil BABY neulich eine NDR-Reportage über die Vorbereitungen zur nationalen Vorausscheidung geschnitten hat, habe ich das Nerven zerfetzende Geschehen diesmal aufmerksamer verfolgt. Ich muss sagen, daß ich die Veranstaltung wie auch das mediale Getöse drum herum schön trashig, aber auch spannend und lehrreich fand.

Da war die inzwischen etwas angeschimmelte, aber im Vorfeld favorisierte Kelly Family, deren stämmige Front-Muhme sich untermalt von rasenden Engelschören eine Ballade rausquälte, die einem sämtliche Zahnfüllungen zog. Oder diese patenten jungen Christen von „Normal Generation?“, die auf so rührende Art -so wie diese patenten jungen Christen eben sind - ihrem rührenden Glauben mittels einer rührenden Kopie einer dieser schmachtenden Mittschnipp-Nummern a la Backstreet Boys huldigten. Auch das (vom 11. September inspirierte) Duett von Bernhard Brink und Ireen Sheer war klasse, die beiden Betonköpfe des deutschen Schlagers zeigten dem modisch verirrten Jungvolk, was eine Hardcore-Harke ist, ohne Brusttoupet und ohne alle Ironie: „STEH AUF! STEH AUF UND SAG NEIN!!!“

Alles lustig, alles nett, aber sicher nicht weiter erwähnenswert, wäre da nicht Ralph Siegel, DER PATE. Äußerlich wirkt er ein bißchen wie das debile Mitglied einer Räuberbande aus der Augsburger Puppenkiste, aber dieser Eindruck täuscht. Dieser Mann ist nicht nur ein komplett abgebrühter Mainstream-Komponist, sondern auch ein souveräner Kenner der medialen, politischen und massenpsychologischen Mechanismen, die der Veranstaltung zu Grunde liegen. Auch wenn er sich in den letzten Jahren den kreischigen Albernheiten von Eintagsfliegen wie Guildo Horn geschlagen geben musste, dieses Jahr ist er wieder Chef in der Manege. Denn nach all dem überdrehten Lachsack-Pop und der ihre Verzicktheit nur mühsam unter Kontrolle haltenden Schnulzensirene Michelle sind nun wieder „Natürlichkeit“, „Einfachheit“ und „Glaubwürdigkeit“ gefragt. So kamen die patenten jungen Christen auf Platz 3 und die alte Bluesfregatte Joy Fleming auf Platz 2. Aber was könnte stimmiger wirken als eine blinde Sängerin, die davon singt, dass sie ohne Musik nicht leben kann. Corinna May singt wie ein Uhrwerk und bewegt sich wie eine mechanische Aufziehpuppe, es war ihr dritter Anlauf, einmal wurde sie unglücklich disqualifiziert und zu guter Letzt konnten sich die anständigen Deutschen emotional nicht mehr wehren und voteten sie auf Platz 1.

Aber ich denke, dass die ganze Nummer tatsächlich auch gesamteuropäische Chancen hat. Normalerweise geht wohl eher ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass ein deutscher Teilnehmer den Grand Prix gewinnt, es sei denn, man singt in einem Rüschenkleid für den FRIEDEN oder aber als Blinder über MUSIK. Das Lied selber ist schmissig genug, um den Hausfrauen an Europas Bügelbrettern einen kessen Hüftschwung zu entlocken und passt wunderbar ins Formatradio. Nicht auszuschliessen, dass DER PATE den Pott zum zweiten Mal holt.

NEFFE bekam vorgestern ein Bobby-Car. Zwar weiss er noch nicht so richtig, wie er das Ding in Bewegung bringen soll, aber allein das Drauf-Sitzen und die Hupe kamen schon gut. Später spielten wir mit Hilfe eines Windeltuchs verstecken: Tuch über’n Kopf – Runterziehen – Ablachen. Wieder und wieder, 10 Minuten lang. Gute Gags kann man eben nicht oft genug bringen.
Noch vor der Sprachphase tut er sich als begabter Geräusch- und Tierstimmenimitator hervor und ausserdem mag ich seine coole Art: als ich neulich mit ihm in der Videothek war, kläffte so ein kleiner Köter direkt neben seinem Kinderwagen los. NEFFE fixierte die Töle mit seinen Clint-Eastwood-farbenen Augen und bellte spöttisch zurück.


DER ASTRO-SCHOCK! Die Sternzeichen stimmten angeblich nicht, alles musste neu berechnet werden, aus Widdern wurden Fische und aus Schützen Skorpione. Das führte zu herben Enttäuschungen. In BILD erzählte eine Kostümbildnerin, dass sie gezielt mit einem Schütze-Kind nieder kam, das nun plötzlich Skorpion sein sollte: „Das finde ich überhaupt nicht lustig.“ Das arme Wurm. Nun musste die Geschichte der menschlichen Beziehungen neu geschrieben werden. Weltbilder gerieten ins Rutschen...
Nach einem von BILD einberufenen „Astro-Gipfel“ gab es dann Entwarnung. Das bekannte Alt-Orakel Elisabeth Tessier, der bekannte alienköpfige Fernsehastrologe Wilfried Noe, der Kohl 1998 einen überwältigenden Wahlsieg vorausgesagt hat und ein weniger bekannter Sternentyp beschlossen, dass alles beim Alten bleibt.

Aber was macht denn nun wirklich den menschlichen Charakter, seine psychischen Eigenarten, seine Anfälligkeit für selbstzerstörerische Exzesse, seine sexuellen Präferenzen, sein Glück oder sein Unglück? Abgesehen vom mystischen Determinismus der Astrologie hat es dazu im 20. Jahrhundert vor allem zwei Ansätze gegeben: den „genetischen“ und den „gesellschaftlichen“. Letzterer wurde vor allem im Gefolge des Marxismus populär, wonach der Mensch, abgesehen von äusserlichen Attributen wie Haut- oder Haarfarbe ein reines Produkt seiner gesellschaftlichen Verhältnisse ist. Ob also Einer ein gemütlicher Liberaler, ein gewalttätiger Ehemann oder ein Säufer oder Mörder werde, hänge ganz allein von den bewussten Erfahrungen und konkreten Lebensverhältnissen ab.
Analog zum Niedergang des Marxismus wurde in den letzten 20, 30 Jahren die „genetische“ Sichtweise des Menschen wieder höher gehandelt. Im Zuge der amerikanischen Zwillingsforschung wurden sogar der Vorname der zweiten Ehefrau, die Rasse des Familienhundes und die Form des Swimmingpools in einen ursächlichen Zusammenhang mit der genetischen Programmierung eines Menschen gesetzt.
So wie das Pendel früher extrem zur „gesellschaftlichen“ Erklärung ausschlug, so zeigt es jetzt in die Richtung der umfassenden „genetischen Programmierung“.
Dabei scheint uns die blosse Anschauung des Lebens doch zu zeigen, dass weder allein unsere Umwelt, Kindheit und soziale Lage unsere psychischen und sozialen Eigenarten erklären können, wie man oft gerade an der kompletten Unterschiedlichkeit von Geschwistern sehen kann, noch dass unsere Sozialisation gemessen an der Allmacht der Gene eine völlig untergeordnete Rolle spielt.

Trotz des erbitterten Widerstands der „Rokoko-Marxisten“, wie Tom Wolfe die „politisch korrekten“ Linksliberalen nennt , ist die „Soziobiologie“ auf dem Vormarsch und der Glaube an die genetische Bestimmtheit so gut wie aller menschlicher Eigenschaften und Verhaltensweisen kennt kaum Grenzen. Und neuerdings scheint durch die Neurowissenschaften, die „Gehirnlandkarte“ der wissenschaftliche Blick auf das menschliche Bewusstsein, ja auf die „Seele“ frei zu sein. Wenn man allerdings bedenkt, dass ein einziger menschlicher Gedankensplitter ein millionenfaches und gleichzeitig in den verschiedensten Hirnregionen stattfindendes Synapsen-Feuerwerk ist, das kaum festzuhalten, geschweige denn nachzuvollziehen ist, weil das millionenfache Feuerwerk der nächsten Gedankenassoziation ein ganz neues Muster hat und weil es eine schier endlose Kette von ständig variierenden millionenfachen Feuerwerken bedeutet, bevor ein einziger kurzer Gedanke gedacht ist, mit all den Bildern, Gefühlen, Erinnerungen, Prognosen und Erwartungen, die damit verknüpft sind, dann wird einem klar, dass eine „Landkarte“ des Gehirns noch keine des menschlichen Bewußtseins ist und erst recht nicht eine der „Seele“.