Sonntag, 17.06.2001

Am Freitagabend war ich wieder auf der Suche nach dem Guten, Wahren und Schönen. Es gab ein Essen bei SCHWESTER und ein alter Feund aus dem Sauerland war da, Georgie, fanatischer Drucker und mittelständischer Unternehmer. Es war schön, zu sehen, daß der alte Spirit sich nicht verflüchtigt hat, wir waren schnell bei den wichtigen Dingen angelangt und sprachen über Soul und Lyrik (in welcher Form auch immer) als der einzig heilsamen Medizin gegen die Qualen der Zivilisation - abgesehen vom Rotwein und dem psychoaktiven Gemüse, so daß wir bald gemeinsam um den Küchentisch flogen. Jenes Zivilisationsdrama besteht doch darin, als Spezies im Zuge der Evolution ein ständig sich selbst reflektierendes Bewußtsein ausgebildet zu haben, das uns eine Art Trennungsschmerz beschert, das Abgenabelt-Sein von der Unmittelbarkeit des reinen Willens, wie ihn die Tiere verkörpern.
Der Abend endete dann in der Havanna Bar mit einigen Caipirinhas und so war gestern ein Tag, der eher langsam begann, mit der Lektüre der „Welt“ und großzügigen Gedanken. Ich sah eine Weile rauchend aus dem Fenster, um dann durch die Warenschächte des Supermarkts mitzuschwimmen, in einer Atmosphäre zwischen Aggressivität und Geilheit. Die knisternden Röcke der Frauen und die schön designte Welt der Markenprodukte - sexy.

Mir scheint, daß ich ewig keinen tollen Roman mehr gelesen habe, immer bloß historische Sachen wie die Hitler-Biografie von Kershaw. Auch nicht schlecht war „Der weiße Kontinent“ über die Entdeckung der Antarktis. Hollow empfiehlt T.C. Boyle. Könnte ich mal wieder versuchen, „Wassermusik“ war wirklich geil, aber danach fand ich es auch oft länglich. Auch neue Musik geht mir ab, die neue „Depeche Mode“ ist wie immer ganz schön, wenn auch nicht unbedingt elektrisierend. Vielleicht sollte ich mich mal an Doktor’s Playlist orientieren, der hört doch immer nette Sachen in seinem Office.Und im Kino sollte ich mir wenigstens „BlackBox BRD“ ansehen.

Heute ist der 17. Juni, früher mal „Tag der deutschen Einheit“ und Gedenken an den Ostberliner Aufstand im Spätstalinismus. Ich las in dem Buch „Gesicht des 20. Jahrhunderts“ von Hans-Peter Schwarz über die „großen Monster“ der jüngeren Geschichte. In der Linken galt Lenin im Vergleich zu Stalin ja lange als netter Onkel. Und er konnte ja auch wirklich rührend sein: „Manchmal möchte ich den Menschen über die Köpfe streicheln, aber die Zeiten sind nicht so. Man muß sie einschlagen, erbarmungslos einschlagen.“ Ich erinnere mich, das ich Lenin als 15jähriger in Heldenpose gezeichnet habe. Die 70er waren schon seltsam, naiv und elitär zugleich.

Das Buch ist auf jeden Fall lesenswert. Schwarz’ Einschätzung der großen politischen Persönlichkeiten des Jahrhunderts ist interessant: Besonders inspirierend finde ich seine Interpretation des „Charakters“ der großen Führungsfiguren der Krieg- und Krisenzeiten. Im hinteren Teil ordnet er Reagan und Thatcher unter die „Radikalreformer“ ein, das ist irgendwie originell, auch nicht wirklich zu bestreiten, da beide radikale, schwer durchsetzbare Schnitte gemacht haben, die die innere Lähmung ihrer Länder gelöst haben. Allerdings sind die Spätfolgen z.B. des Thatcherismus in Gestalt der Agonie der sozialen Dienste auf der einen und des neureichen Zynismus auf der anderen Seite äußerst unappetitlich. Kennedy ist bei Schwarz ein ziemlicher Poser, auch das hat Einiges für sich, allerdings war sein historischer, erfolgreich bestandener Showdown mit Chruschtschow wegen Kuba auch nicht gerade eine Kaffeefahrt.

Tata!! Kinskis Gedichte sind aufgetaucht. Damals war er noch blutjung, aber wie man sieht, schon genauso wahnsinnig. Kraftvoll, absolut. Dieser Typ hat mich schon immer fasziniert. Meine Exfrau, die Fotografin, hatte mal eine Portraitsession mit ihm gehabt, sie mußte mir alles im Detail erzählen. Sie hat behauptet, das da nichts vorgefallen sei, aber ein paar Jahre später las ich in seiner Autobiografie diese Gechichte in einer ziemlich saftigen Version. Ich war irritiert und amüsiert zugleich. Der Mann hat ja immer gern dick aufgetragen, aber wer weiß? Jedenfalls hat mich dieser Maniac letztes Jahr zu einem kleinen Couplet inspiriert, das ich an dieser Stelle mal zum Besten geben will:

klaus kinski ißt ein brot © havaii 2000

er verlangt ein sandwich
man bingt es ihm eilig
denn alle wissen
dies ist ihm heilig

im blick nackter wahnsinn
er krallt seine beute
mit zitternden lippen

klaus kinski ißt ein brot

die menschen sie starren
wie gelähmt auf die szene
blutiges roastbeef
tropft von seinen zähnen
der leibhaftige satan
macht hier seine brotzeit
das brot und klaus kinski
eine schaurige hochzeit

er reisst sie in stücke
die arglose schnitte
er malmt und er speichelt
was kümmern ihn dritte?

der rasende lutscht schon
an den letzten krumen
da fällt sein blick
auf die ausstattungsblumen
ein geheul des triumphes
entringt sich dem munde
er wirft sich nach vorn
in die weichende runde
nichts kann ihn stoppen
der tobende schreit:
ich fresse die blumen!
Ihr arschlöcher! weicht!

er frisst die blumen
und auch noch die vase
doch das ist nur ein vorspiel
zur wahren extase
das objekt der begierde
wer kann es verhindern?
ist der hintern der drallen
regieassistentin

er schultert das weib
seine wimmernde beute
flucht auf französisch
und sucht mit ihr das weite

die zurückgebliebenen
sehen sich schweigend an
wohl dem, der dem dämon
diesmal entrann